Eine bewegte Geschichte


Rieger – vom k & k Hoflieferanten zur GmbH

Franz Rieger wollte nicht Gärtner werden wie sein Vater. Er interessierte sich für die Musik und für die Handwerkskunst. Zwei Vorlieben, die sich ideal im Beruf des Orgelbauers vereinen lassen. Dafür entschied er sich.

Nachdem er die höhere Schule in seiner Heimatstadt Jägerndorf (heute Krnov, CR) abgeschlossen hatte, machte er sich auf in die Haupt- und Residenzstadt Wien und bewarb sich beim Orgelbaumeister Joseph Seybert, der für seine solide Arbeit bekannt war. Der nahm ihn als Lehrling auf. Man kann sich vorstellen, welche Chance dies für Franz war, hier nicht nur das reine Handwerk erlernen, sondern auch vom Musikleben Wiens profitieren zu können.

Nach dem Abschluss der Lehre ging Franz, wie es damals üblich war, auf Wanderschaft, um bei verschiedenen Meistern seinen Horizont zu erweitern.

1844 legte er die Meisterprüfung ab und kehrte als geprüfter Meister, 32-jährig, nach Jägerndorf zurück. Hier galt es nun, den Beweis seiner Fähigkeiten mit seinem Erstlingswerk anzutreten. Glücklicherweise fand sich Gelegenheit dazu in der Burgkirche nahe Jägerndorf. Er erhielt hier die Chance, eine Orgel mit 20 Registern auf zwei Manualen und Pedal zu bauen.

 

Das Opus 1 gelang. Der Betrieb wuchs zu einem soliden Unternehmen, bekannt für qualitätvollen Orgelbau, und wurde 1852 in das Handels- und Gewerbeadressbuch der österreichischen Monarchie aufgenommen.

Mittlerweile hatte Franz Rieger auch Rosalia Schmidt geheiratet, mit der er neun Kinder hatte.

Beides war ein Lebenswerk. Er mag wohl froh gewesen sein, dass sich zwei seiner Söhne, Otto und Gustav, für den Orgelbau interessierten. Sie gingen gemeinsam nach Wien, um dort, wie ihr Vater, die Lehre zu machen. Diesmal bei Franz Ullmann. Auch sie gingen anschließend auf Wanderschaft. Bekannt sind die Stationen Bamberg und Würzburg mit der Werkstatt von Balthasar Schlimbach, einer der damals berühmtesten Orgelbaumeister.

1873 kehrten sie heim. Sie waren 26 und 25 Jahre alt, voller Ideen und Tatendrang. Dem ließ ihr Vater freien Lauf. Das Unternehmen „Franz Rieger & Söhne“ wurde gegründet, in dem der Vater noch bis 1880 als Berater mitarbeitete. Er starb 1885.

 

Offensichtlich waren die beiden Brüder nicht nur hervorragende Orgelbauer, sondern auch exzellente Unternehmer: Die Qualität der Instrumente ging durch den raschen Aufschwung des Unternehmens nicht verloren, wie dies bei der Umstellung auf größere Kapazitäten oft der Fall ist, vielmehr war der Erhalt höchster, technischer Perfektion, gepaart mit Erfindergeist und ständiger Suche nach neuen, technischen und vor allem musikalischen Möglichkeiten, der Grund für den ungewöhnlichen Erfolg der Brüder.

 

Dies begann mit einer Goldmedaille auf der Wiener Weltausstellung 1873 für das Opus 1 (Man hatte 1873 mit einer neuen Zählung begonnen), setzte sich fort mit Aufträgen aus Wien, bald auch Exportaufträgen aus Norwegen, Istanbul, Gibraltar, Rom und Jerusalem. Hinzu kamen Aufträge aus Deutschland und Russland.

Aber auch die kleinen Landgemeinden wurden nicht vergessen: Ein Programm von Serienorgeln aller Größen ermöglichten es, auch weniger begüterte Kirchen mit qualitätvollen Instrumenten auszustatten. Aus der Sicht des heutigen Organologen mag man einwenden, dass sich diese Instrumente alle sehr ähnlich waren. Stimmt! Aber sie waren alle gut.

 

1879 wurde Franz Rieger mit dem Goldenen Verdienstkreuz ausgezeichnet, 1896 wurden Otto und Gustav Rieger zu „k & k Hoflieferanten“ ernannt.

Zu dieser Zeit, knapp 25 Jahre nach der neuen Firmengründung, arbeiteten in neu erbauten Werkstätten von fast 20.000 Quadratmetern über 150 Mitarbeiter. Viele davon wohnten in betriebseigenen Werkswohnungen, die rund um den Betrieb errichtet worden waren, die auch als erste Wohnungen der Stadt elektrisches Licht erhielten, mit Strom aus dem betriebseigenen, mit Holzabfällen aus der Produktion betriebenen („Biomasse“-) Heizkraftwerk. (Allerdings war man damals auf den rauchenden Schlot noch stolz!)

Vorbildlich war das Unternehmen aber auch in sozialer Hinsicht: Rieger richtete für die Mitarbeiter eine eigene Kranken- und Unfallversicherung ein, die so genannte „Bruderlade“, die zur Gänze aus Beiträgen des Arbeitgebers gespeist wurde.

Stilistisch orientierten sich die Orgeln soweit an den Strömungen der Zeit, als dies ohne qualitative Kompromisse möglich war. Man baute vor allem mechanische Kegelladen, nur wenige pneumatische und fast keine elektrischen Trakturen, da man sich derer begrenzten Zuverlässigkeit und Lebensdauer bewusst war.

Man befand sich in der Zeit der Orgelromantik, die nach kräftigen Stimmen verlangte, die nur durch höhere Winddrücke erreicht werden konnten. Hierfür erfand man ein eigenes elektrisches „Universalgebläse“. Damit begann auch die Zeit der großen Konzertsaalorgeln.

 

Als Otto Rieger 1903 starb und sich auch Gustav ins Privatleben zurückzog, übernahm Ottos Sohn, wiederum Otto, die Leitung des Unternehmens. Er, selbst hervorragender Organist, war Meister dieser Konzertsaalorgeln. Dennoch: gleichzeitig wirkte er maßgeblich am dritten Kongress der internationalen Musikgesellschaft mit, in der Sektion für Orgelbau, gemeinsam mit Albert Schweitzer. Er wurde ein Verfechter der so genannten „Reformorgel“, also einem Instrument mit mechanischer Traktur, Schleifladen und weniger orchestralen Klangfarben. Jedes an seinem Ort…

Otto gründete auch einen Zweigbetrieb in Budapest, der eine wahre Blüte erlebte, wohl vor allem mit den oben genannten Serienorgeln. Otto gelangen auch die ersten Exporte nach Übersee (Mexico). Doch der erste Weltkrieg warf seine Schatten voraus. Auch Otto musste zum Militär.

Als er aus dem Krieg heimkehrte, war die Welt eine andere. Statt in der österreichischen Monarchie befand sich der Betrieb im tschechischen Staat, die Märkte waren zusammengebrochen, die Belegschaft dezimiert. Ottos Leben endete zwei Jahre nach dem Krieg, 1920.

 

Ottos Schulfreund, Josef Glatter, war nach der Schule zum Militär gegangen und hatte dort Karriere gemacht. Er war Oberstleutnant im Geniestab (dem Generalstab der Pioniertruppen) geworden und durch seine Ehe mit Hilda von Götz durch allergütigsten kaiserlichen Beschluss Josef von Glatter-Götz. Auch er kehrte nach dem Krieg heim nach Jägerndorf.

Im technischen Zweig des Generalstabes hatte er sicher viel gelernt, das ihn befähigte, ein ehedem großes Unternehmen wieder neu zu organisieren und durch schwere Zeiten zu führen. Das erkannte Otto Rieger und machte ihn zum Betriebsleiter. Nach Ottos unerwartetem Tod erhielt er von Ottos Witwe die Prokura, 1924 erwarb er das Unternehmen. Otto hätte keinen Nachfolger in der Familie gehabt. So ging das Unternehmen an einen Freund, der in dieser Stunde die richtigen Voraussetzungen mitbrachte, es zu neuen Höhen zu führen und eine neue Familientradition aufzubauen. Die beiden Söhne dafür hatte er schon: Egon und Josef.

Doch zunächst galt es, neue Märkte zu erschließen. Um auf dem deutschen Markt Fuß zu fassen, gründete er in Mocker, jenseits der nur 7 Kilometer entfernten Grenze, einen Zweigbetrieb. Über diese Konstruktion bestritt die Firma Rieger 1937/38 zwei Drittel des gesamten großdeutschen Orgelexportes. Man baute noch hochromantische Orgeln neben solchen, die die so genannte „Orgelbewegung“, die Rückbesinnung auf das klassische Ideal der mechanischen Schleifladenorgel, einleiteten.

Gerade auf diesem Gebiet waren seine Söhne aktiv, als der 2. Weltkrieg ausbrach und die Firma Rieger auf Beschluss der Reichsregierung die Produktion von Munitionskisten aufnahm. Inter arma musae tacunt…

Egon fiel in den ersten Tagen des Polenfeldzuges, Josef verfasste im OKH (Oberkommando des Heeres) in Berlin einsatztaugliche Dienstvorschriften für die Panzertruppen und konstruierte einen Flak-Panzer „Kugelblitz“, der zwar vom Führer gelobt, aber nicht mehr gebaut wurde.

1945 wurde aufgrund der Benesch-Dekrete alles deutsche Eigentum beschlagnahmt und die deutschsprachige Bevölkerung vertrieben. Es fällt schwer, das Leid auf allen Seiten an dieser Stelle mit einigen Sätzen abzutun. Unermessliche Tragödien verbanden sich hier, an der Schnittkante von Ost und West, mit den Menschen, von denen wir hier nur nüchtern feststellen, dass sie sich, etwa 10 Familien aus Jägerndorf, in Schwarzach/Vorarlberg wieder zusammengefunden hatten.

In Schwarzach war nämlich die Orgelbauwerkstatt „Behmann“ ansässig gewesen und hatte vor dem Krieg ein Kooperationsangebot an Rieger gerichtet. Nun waren Glatter-Götz, Vater und Sohn, und die Mitarbeiter, alle mit ihren Familien, froh, dass sie sich in diesen Werkstätten einmieten konnten. Allerdings stellte die Gemeinde eine Bedingung, die ebenso verständlich ist: Es durfte kein Wohnraum beansprucht werden. So wurden einige Reicharbeitsdienst-Baracken organisiert und in einem aufgelassenen Schießplatz im „Eulentobel“ ein Barackenlager errichtet. „Klein-Jägerndorf“ wurde es genannt.

Österreich war in vier Besatzungszonen geteilt. Reisen war praktisch unmöglich, für den Orgelbau aber unerlässlich. Zwar gelang es, Aufträge für einige Restaurierungen zu erhalten und durchzuführen, ansonsten hielt man sich mit dem Bau von Fenstern und Webstühlen und dem Betrieb einer Sauna, in der sich Josef Glatter-Götz jun. als gefragter Masseur betätigte, über Wasser. Glatter-Götz sen. starb 1948.

1950 brachte den ersten Durchbruch: Josef hatte eine kleine, aber rein mechanische Orgel mit 6 Registern gebaut und es ergab sich, dass Paul Hindemith und Herbert von Karajan dieses Instrument sahen und davon begeistert waren und in ihren Orchestern verwendeten. Davon ermutigt, fuhr Josef mit einer solchen Orgel zur Weltausstellung nach Chicago. Und er verkaufte sie!

In der Folge wurden die USA ein sehr wichtiger Markt, zuerst durch kleine Serieninstrumente, die durch ihre geniale Technik bestachen und eine Zeit lang in recht großer Zahl gebaut wurden.

Obwohl der Zeitgeist noch ein anderer war, hielt Josef Glatter-Götz am Ideal der mechanischen Schleifladenorgel fest und wurde zu ihrem Pionier, der den Orgelbau gerade in Deutschland und den USA, damit aber auch weltweit, beeinflusste. Er versuchte auch vieles, was sich nicht bewährte, daraus lernten dann seine Nachfolger, seine Schüler und seine „Kollegen“, wie man die Konkurrenten so gerne bezeichnet.

Einige seiner Orgelprospekte sind zu „Klassikern“ geworden. Etwa in der Barfüßerkirche in Augsburg, in Villich bei Bonn, in Altach/Vorarlberg oder in Oggau am Neusiedler See, wo er wegen Verstoßes gegen das Denkmalschutzgesetz zu 5.000,– Schilling Strafe verknackt wurde. Besonders ist hier aber sein letzter Entwurf zu nennen, jener für die Orgel im Ratzeburger Dom.

Gerade im Zusammenhang mit dieser Orgel trat die dritte Glatter-Götz-Generation auf den Plan: Caspar, Raimund und Christoph.

Caspar hat seine Lehre bei der Firma Rieger gemacht, bevor er auf Wanderschaft ging. Von Beckerath, Kuhn und Kern waren seine Stationen. 1968 wurde er Betriebsleiter bei Rieger. Nach der Experimentierfreude des Vaters war ihm gediegenes Handwerk ein Anliegen, größtmögliche Perfektion in der Mechanik, verbunden mit einer funktionalen Ästhetik, wie sie in der Ratzeburger Orgel zum ersten Mal voll zur Geltung kam. Zu dieser Zeit wurde der Schlüssel für eine Bauweise der Trakturen entwickelt, die es ermöglicht, auch größte Instrumente rein mechanisch zu spielen. Was gerade zu dieser Zeit, als sich verschiedene Fundamentalismen breit machten, sehr gefragt war.

Christoph hatte seine Ausbildung bei der Firma Marcussen in Dänemark genossen. Nach der Arbeit bei verschiedenen Orgelbauern und der Übersetzung des Dom Bédos übernahm er 1977 die Geschäftsführung der Firma Rieger.

Zur gleichen Zeit trat auch Raimund, der in Wien Design studiert und bei der Firma Klais seine Lehre gemacht hatte, auf der Basis der freien Mitarbeit als architektonischer Gestalter dem Trio bei. Wie 100 Jahre früher waren es wieder „Gebrüder Rieger“. Allerdings in Form einer GmbH.

1972 war ein neues Betriebsgebäude bezogen worden, das 1992 wesentlich erweitert wurde. Zu einem modernen Betrieb, mit dem Schwerpunkt der Schaffung eines „Lebens“-raumes, wo eine Kantine mit vollständiger Werksküche und einem Biergarten einen hohen Stellenwert hatten.

In dieser Zeit wurden die erreichten Standards gefestigt. Klanglich wurde ein eigenständiger Stil verfolgt, der aber größtmögliche Flexibilität für jegliche Stile der Orgelmusik anstrebte. Dem entsprach die Architektur der Instrumente, die, wo immer es gelang, dies durchzusetzen, sich mit modernen Formen in die meist historischen Gebäude einfügte.

Caspar verließ 1993 das Unternehmen und übernahm einen Betrieb in Süddeutschland.

Mit seinem Nachfolger, Wendelin Eberle (*1963), kam sehr viel neue Dynamik in das Unternehmen. Er hatte hier gelernt, sich aber auch anderweitig umgesehen und umfassend gebildet. Vielleicht war es eine Gegenreaktion zum Ziel des Vaters, alle drei Söhne in der Firma zu sehen, dass Caspar, Raimund und Christoph, die insgesamt   8 Kinder hatten, keines davon motivieren konnten (oder wirklich wollten), sich im Orgelbau zu betätigen. Es war also ein neuerlicher Wechsel der „Dynastie“ unumgänglich.

Christoph war an Parkinson erkrankt und sah sich 2003 nicht mehr in der Lage, das Unternehmen adäquat zu führen. Deshalb bat er seinen Freund Wendelin, seine Nachfolge anzutreten. Wie Otto Rieger 80 Jahre oder drei Generationen zuvor seine Agenden an einen Freund übergeben hatte.

Die Übergabe erfolgte am 1. Oktober 2003.